Digitales Eco-System


Das Digitale Zeitalter führt zur Entstehung Digitaler Eco-Systeme, für die unser Managementverständnis des Industriezeitalters nicht vorbereitet ist.


Bei dem Begriff „Digitales Eco-System" denken viele vermutlich zuerst an grosse Namen wie Apple, Amazon, Uber oder airbnb. Aber der Eindruck wäre falsch, Digitale Eco-Systeme seien immer gross und mit digitalen Geschäftsmodellen verbunden.

Wenn wir bereit für das digitale Zeitalter sein wollen, müssen wir Digitale Eco-Systeme unabhängig von deren Grösse erkennen und, wenn möglich, auch führen können.



Die grösste Gefahr auf dem Weg in das Digitale Zeitalter ist, Digitalisierung nur operativ zur Unterstützung betrieblicher Prozesse zu verstehen, und zu glauben, man habe die Digitalisierung bereits im Griff. Solange eine Führungskraft gedanklich im Industriezeitalter und bei einem industriellen Geschäftsverständnis bleibt, werden
  • einerseits die Potentiale - aber auch die Gefahren des Digitalen Zeitalters nicht gesehen.
  • andererseits können Entscheidungen auf Basis eines falschen Managementverständnisses getroffen werden.

Natürlich müssen wir nicht um jeden Preis jetzt sofort den Sprung in das Digitale Zeitalter suchen, aber wir müssen in der Lage sein, die Entwicklungen hin zu Digitalen Eco-Systemen zu verstehen und verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen.


Wir sprechen dann von einem Digitalen Eco-System, wenn die Autonomie eines teilnehmenden Unternehmens eingeschränkt wird.


Dass die vernetzte Wertschöpfung eine zunehmende Rolle spielt, konnten wir hoffentlich auf der Seite "
Was wird im Digitalen Zeitalter anders sein ?" nachvollziehbar begründen. Aber eine vernetzte Wertschöpfung ist nicht das ausschlaggebende Merkmal eines Digitalen Eco-Systems (auch wenn das öfters mal in der Literatur so geschrieben wird). Fast alle Unternehmen sind heute vernetzt und fast alle Unternehmen habe Lieferanten und/oder Vertriebspartner. Das ist nichts Neues. Darüber müssten wir uns nicht so viele neue Gedanken machen. Um nun aber die Abgrenzung zu einem Digitalen Eco-System zu erkennen, müssen wir prüfen, ob die eigene unternehmerische Freiheit eingeschränkt wird :
  • Ist ein Unternehmen in deren Managemententscheidungen unabhängig von anderen Unternehmen, ist es in kein Digitales Eco-System eingebunden. Auch dann nicht, wenn es in eine vernetzte Wertschöpfung eingebunden ist.
  • Gibt es aber Managemententscheidungen, die ein Unternehmen in einer erhöhten Machtposition trifft und deren Wirkung eine bisher gegebene Management-Autonomie anderer, wertschöpfungsteilnehmender Unternehmen einschränkt, liegt ein Digitales Eco-System vor.

Ein klassisches Beispiel, ist das gewählte Kundenbild. Wenn es für die gemeinsame Wertschöpfung erforderlich (oder sinnvoll) ist, einen Konsens zum Kundenbild zu haben, wird sich die Frage stellen, wer diese Entscheidung trifft, und wer diese Entscheidung nicht trifft - aber ihr zu folgen hat. Weitere Beispiele, zu denen möglicherweise ein Konsens sinnvoll ist :
  • Rahmenbedingungen zu Transaktionen und/oder finanziellen Abwicklung
  • Qualitätsstandards
  • kulturelle/ethische Werte der Kooperation
  • Wahl der IT-Infrastruktur, Schnittstellen oder Plattformen
  • ...

Wenn also nun ein Unternehmen in einer erhöhten Machtposition Entscheidungen mit Wirkung auf andere, wertschöpfungsteilnehmende Unternehmen trifft, dann werden diese wertschöpfungsteilnehmende Unternehmen in den betroffenen Entscheidungen fremdgesteuert, oder zumindest fremd beeinflusst. Das hat einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die betreoffenen Unternehmen und muss rechtzeitig erkannt werden. Das hat auch nicht nur eine statische, also einmalige Relevanz. Das machthöhere Unternehmen, könnte getroffene Entscheidungen auch korrigieren. Es könnte auch mit der Andeutung einer Korrektur (mit negativer Wirkung auf andere) vielleicht nur eine Verhandlungsposition stärken.


Könnte die Autonomie der Unternehmensführung durch ein Digitales Eco-System eingeschränkt werden, ist eine rechtzeitige Überprüfung der unternehmerischen Ziele und der Form der Unternehmensführung erforderlich.


Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Management als die Tätigkeit der Unternehmensführung. Dabei geht die Entstehung unseres heutigen Managementverständnisses auf die Industrialisierung zurück. Damals sind grosse, zentrale Produktionsstätten entstanden, zu deren gewinnorientierten Führung Handlungsempfehlungen enwickelt wurden. Implizit sind dabei diese Handlungsempfehlungen davon ausgegangen, dass Entscheidungen verantwortlich durch eine Führungskraft getroffen werden können. Wenn wir uns aber nur ein paar Beispiele unter der Brille des Digitalen Zeitalters ansehen, erkennen wir schnell, dass wir uns auf die Handlungsempfehlungen des Managements aus dem Industriezeitalter nun nicht mehr verlassen können :
  • Beispiel Strategie : Während wir im Industriezeitalter auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens und/oder dessen strategischen Geschäftseinheiten (Produkt-Markt-Kombinationen) abstellten, müssen wir im Digitalen Zeitalter die Wettbewerbsfäigkeit von Wertschöpfungsbeiträgen managen können. Das kann dabei auch die Kooperation mit mehreren, unterschiedlichen Digitalen Eco-Systemen umfassen.
  • Beispiel Uniqueness (Alleinstellungsmerkmal) : Im Indsutriezeitalter verstanden wir darunter eine Besonderheit, die ein Unternehmen oder ein Produkt vom Wettbewerb abhebt. Wir haben gelernt, ein Unternehmen in diesem Verständnis zu führen. In einem Digitalen Eco-System des Digitalen Zeitalters können wir aber nur auf die Uniqueness von einzelnen Wertschöpfungsbeiträgen setzen. Möglicherweise sind wir nur in den Wertschöpfungsbeiträgen mit Uniqueness in einem Digitalen Eco-System überlebensfähig.
  • Beispiel Investitionsentscheidungen : Klassischen Handlungsempfehlungen des industriellen Managements gehen davon aus, dass der Unternehmer das angestrebte Marktvolumen bestimmen - und hieraus beispielsweise den Investitionsbedarf für Produktionskapazitäten ableiten kann. Diese Entscheidungen werden aber in einem Digitalen Eco-System möglicherweise nicht von dem investierenden Unternehmen getroffen, sondern von einem machtstärkeren Unternehmen des Digitalen Eco-Systems. Investitionsentscheidungen nach den Empfehlungen des industriellen Managementverständnisses können sich daher als schmerzliche Fehlentscheidung herausstellen. Wir könnten die Liste unternehmerischen Entscheidungen hier nun nahezu unendlich fortsetzen. Tatsächlich ist jedes Entscheidungsfeld im Digitalen Zeitalter auf ihre Autonomie zu prüfen, sowie dahingehend zu prüfen, durch welches Unternehmen welche Entscheidungen übersteuert werden können, wie hoch die Wahrscheinlichkeit hierfür ist und welche Interessen das übersteuernde Unternehmen künftig haben wird.
  • Beispiele aus der operativen Unternehmensführung : Hier bietet uns unser Handwerkszeug des industriellen Managements eine Vielzahl von Konzepten. Z.B. über einen Budgetierungsprozess können Wertschöpfungsziele auf Abteilungen herabgebrochen werden und dann z.B. mithilfe eines Managements by Objectives an Mitarbeiter weitergegeben werden. Die Frage, wie ich aber Ziele einer vernetzten Wertschöpfung an austauschbare Partner in einem Digitalen Eco-System weitergebe, ist im industriellen Managementverständnis nicht ausreichend beantwortet. Ebenso ist die Frage der Weitergabe an Mitarbeiter nicht ausreichend beantwortet, wenn die Mitarbeiter sukzessive unternehmerischer agieren beziehungsweise zu Partnern werden. Wir werden dies noch in dem Bereich "Soziotechnisches Framework" weiter vertiefen.
  • Beispiele aus dem Umfeld der Rechnungslegung : Im engeren Sinn mag die Rechnungslegung zwar auch in einer vernetzten Wertschöpfung ihre Gültigkeit behalten - aber deren Gestaltungsspielräume verändern sich. Während eine zentrale Produktionsstätte im Industriezeitalter einem Wirtschaftsraum und damit einer Steuerhoheit sowie einer Legislative zugeordnet war, kann ein Digitales Eco-System mehrere Wirtschaftsräume umspannen. Hieraus ergeben sind nun weitere Gestaltungsspielräume, zu denen wir beispielsweise mit BEPS schon die ersten Vorboten sehen.

Diese Beispiele sind nur eine Auswahl und sollen verdeutlichen, dass Unternehmen im Digitalen Zeitalter mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind, zu denen die Managementforschung nun die entsprechenden Konzepte bereitstellen muss.

Um nun auch das Ausmass dieser Einschränkung in der Autonomie der Unternehmensführung zu erkennen, genügt ein erneuter kurzer Blick auf die vernetzte Wertschöpfung. Vernetzt heisst natürlich, dass mehrer Unternehmen beteiligt sind. Mindestens zwei - meist aber natürlich mehr. Dabei wird es aber nur eines geben, das die höchste Macht besitzt und damit Entscheidungen trifft, denen die anderen folgen müssen. Das heisst damit, dass im Digitalen Eco-System die meisten Unternehmen in einer Position sind, in der ihre Automonie der Unternehmensführung zumindest teilweise eingeschränkt ist.


Die Grösse eines Digitalen Eco-Systems wird durch die Reichweite des Einflusses des machtstärksten Unternehmens bestimmt.


Auch wenn für Digitale Eco-Systeme oft die klassischen Beispiele wie Apple, ueber, usw verwendet werden, ist der vermittelte Eindruck falsch, ein digitales Eco-System sei immer gross und eindeutig erkennbar. Das zentrale Merkmal eines digitalen Eco-System ist eben die Einschränkung der Autonomie. Wie bereits zuvor angesprochen, ist im Digitalen Zeitalter jedes Entscheidungsfeld auf ihre Autonomie zu prüfen. Dabei könnte das Ergebnis für jedes Entscheidungsfeld und jedes Unternehmen unterschiedlich ausfallen. Entscheidet sich ein Unternehmen dafür, diese Einschränkung in der Autonomie zu akzeptieren (da vielleicht die Vorteile der angestrebten vernetzten Wertschöpfung überwiegen), ist aus Sicht dieses Unternehmens der betroffene Wertschöpfungsbeitrag Bestandteil dieses Digitalen Eco-Systems. Sollte ein anderen Unternehmen in diesem Umfeld eine abweichende Entscheidung treffen, wird dieses Unternehmen die Grösse des Digitalen Eco-Systems abweichend wahrnehmen. Die Grösse eines Digitalen Eco-Systems ist also immer relativ. Jedes Unternehmen kann es individuell wahrnehmen.


Digitale Eco-Systeme sind nicht neu.


Vernetzte Wertschöpfungen kennen wir schon länger. So wurde zum Beispiel in der Automobilbranche in den 80‘er Jahren ODETTE ins Leben gerufen. Mit dieser Unterstützung der zwischenbetrieblichen Abläufe ist die Fertigungstiefe in der Automobilbranche konstant gefallen und pendelt sich derzeit im Branchendurchschnitt bei gut 20% ein. Das heisst, knapp 80% der Wertschöpfung werden auf vernetzte Partner übertragen. Aber auch wenn sich die Fertigungstiefe nun bei diesem Wert einpendelt, heisst das nicht, dass die Automobilbranche das Thema der Digitalisierung hinter sich hat. Initiativen, wie beispielsweise Mobility Eco-Systeme, in der derzeit mehreren Anbietern um eine Vorherrschaft kämpfen, oder Co-Creation beim Einsatz von Autonomous Driving zeigen, dass sich auch die Automobilbranche weiterhin konstant der Dynamik des Digitalen Zeitalters stellen muss.

Die Automobilbranche ist ein Beispiel, in dem wir bereits seit längerem eine vernetzte Wertschöpfung haben. Warum haben wir die vernetzte Wertschöpfung nicht in allen Branchen ? Auch hier liegt die Antwort wieder in den Kosten. Während in den 80‘er Jahren eine Vernetzung zwischen Partnern noch mit erheblichen Investitionen verbunden war, ist Vernetzung heute quasi zum Nulltarif verfügbar. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.

Verdeutlichen wir das an einem weiteren Beispiel. Nehmen wir jetzt mal das Gesundheitswesen : Vielleicht ist ein Hausarzt heute noch davon überzeugt, dass ihm seine Patienten aufgrund eines über Jahre aufgebauten Vertrauensverhältnis weiterhin treu bleiben. Aber kann sich der Hausarzt wirklich darauf verlassen ? Vielleicht wird schon bald ein Grossteil der Bürger quasi automatisch über ein Smartphone oder ein anderes Device informiert, wenn Sensoren Veränderungen im Körper erkennen, die (nach einer Hintergrundauswertung und einem Abgleich mit einem Vergleichsdatenbestand) eine medizinische Handlung indizieren. Für diesen Fall wird sich vielleicht die Frage stellen, wem die Daten dieser Sensoren gehören und wem der Vergleichsdatenbestand für den Abgleich gehört - oder wer ganz pragmatisch den Patienten zuerst informiert und somit vielleicht bindet. Denn dieses Unternehmen könnte dann entscheiden, wer bei einer möglichen medizinischen Handlung eingebunden wird und somit von diesem Patienten wirtschaftlich profitiert.

Stellen wir doch mal den uns bekannten Ist-Zustand einem möglichen künftigen Szenario gegenüber.

Heute beginnt eine Behandlung meist damit, dass ein Patient mit Beschwerden die Praxis aufsucht. Vielleicht diagnostiziert der Hausarzt nach einer Anamnese (Erfragung medizinisch relevanter Informationen) und einer Untersuchung einen Befund, auf dessen Basis er eine Therapie ableitet oder er könnte eine Weiterbehandlung durch einen Spezialisten empfehlen und überweist ihn. Im klassischen Ansatz ist damit eine Behandlung abgeschlossen und kann abgerechnet werden.

Vielleicht ist das aber morgen bereits anders. Vielleicht kann ein intelligenter Algorithmus, der selbständig Anamnese-Informationen und Sensor-Daten mit einem grossen Vergleichsdatenbestand abgleicht, einen Befund in Verbindung mit einer Therapieempfehlung ableiten. Vielleicht stehen dem Patienten diese Möglichkeiten schon bald selbst zur Verfügung, ohne dass er hierfür eine Hausarztpraxis aufsuchen müsste. Vielleicht würde dann der Hausarzt seine Uniqueness darin finden, dass er den Befund bzw. die Therapieempfehlung erklärt und um menschliche Gefühle anreichert ? Vielleicht fokussiert sich in Folge der Hausarzt auf diejenigen Therapien, die beim Patienten eine psychologische Belastung auslösen und zu denen der Patient menschliches Einfühlungsvermögen benötigt ? Vielleicht begleitet ihn der Hausarzt in dieser Funktion auch eine längere Therapie über mehrere Partner ?
Wir sehen also, dass in diesem Szenario, das Stand-Heute sogar als wahrscheinlich einzustufen ist, der klassische Hausarzt eine neue Rolle finden würde.
Natürlich würde heute kein Hausarzt zu seinen Patienten sagen, dass er sich seine Therapieempfehlung selber googeln soll. Aber wenn das hier beschriebene, vernetzte Zukunfts-Szenario kommt, wird es nicht in einem Big-Bang kommen, sondern sich sukzessive entwickeln. Dabei wird es auf Partner bauen, die sich dieser Entwicklung gegenüber nicht verschlossen haben. Mit steigender Verbreitung dieses Szenarios werden diejenigen Ärzte, die sich in dieser Entwicklung nicht proaktiv positionieren, zum Spielball der anderen werden, und höchstwahrscheinlich rückläufige Patientenzahlen haben.
Analoge Beispiele lassen sich übrigens für jede Branche finden. In der Landwirtschaft ... Im Tourismus ... In der Finanzbrache ... In der Ausbildung ... Im Handel ... u.s.w.
Aber wie bereite ich mich auf neue Szenarien vor, in denen ich selbst nur ein "Zahnrad im Getriebe" bin und vielleicht bei der Entwicklung dieses Getriebes gar nicht mitreden kann ? Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass wir vielleicht gar nicht von einer einmaligen Transformation sprechen, sondern von einem Einstieg in ein dynamisches Zeitalter, bei dem Veränderungen zum Daily Business werden, wird deutlich, dass wir unseren Management-Werkzeugkofferr erweitern müssen.
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